Juden altern nicht

von Charles Steiman
online am Gemeindelehrvormittag nach dem Morgen-Minijan in der ARI
am 22. April 2025

Vor der Pandemie war ich einige Male in Israel, um nach Dokumenten zu suchen, die mir helfen könnten, ein vollständigeres Bild vom Leben und Werk von Rabbiner Dr. Lemle in Brasilien zu zeichnen. Wir haben bereits viel Material in der von ihm gegründeten Gemeinde ARI und bei der Familie Lemle, hauptsächlich über seine Arbeit in Deutschland und England, bzw. ihrem Herkunftsland und ihrem Exilland vor Brasilien.

Diese Aufenthalte waren für mich als Forscher aufschlussreich, als Mensch erbaulich und entscheidend für meine Beziehung zu Israel und seinen Bürgern. Ich kann mir vorstellen, dass jeder das irgendwann in seinem Leben durchmacht.

Bei einem dieser Besuche im Archiv der Hebräischen Universität in Jerusalem war ich sehr überrascht von der Anzahl orthodox aussehender Männer, die die öffentlich zugänglichen Computer in der Universitätshalle benutzten. Ich habe damals sogar gegenüber der mich begleitenden Forscherin meine Freude darüber zum Ausdruck gebracht, dass sich so viele von ihnen für Kultur, Wissenschaft, Forschung und Information in einem nicht orthodoxen Rahmen interessierten! Naivität meinerseits! Sie erklärte mir schnell, dass sie dort waren, um sich Pornoseiten anzusehen! Offenes und freies Internet, ohne „koscherisierende“ Einschränkungen oder Eingriffe restriktiver Rabbiner.

Als vernünftige, universale, humanitäre und moderne Bürger stellen wir oft das Zölibat unter katholischen Geistlichen in Frage. Dieses Thema wurde in den letzten Jahren in der Presse so intensiv diskutiert, dass es den kürzlich verstorbenen Papst dazu veranlasste, die Angelegenheit – möglicherweise gegen grossen Druck – in Synoden und kirchlichen Versammlungen zu diskutieren. Aber geht unsere Kaschrut nicht denselben Weg, wenn sie auf Rituale beschränkt und nicht mit dem ethischen oder moralischen Charakter unseres Verhaltens verknüpft ist?

Als Reformjuden stellen wir die Ethik sicherlich über das Ritual. Ich glaube wirklich daran und an den Weg der Korrektheit, mehr als an den Weg der Heiligkeit. Bei der Korrekheit wird sogar die Abweichung erkannt und behoben, sie wird angepasst, während die Heiligkeit ein absolutes Mass ist und kaum menschlich.

In seiner weniger offensichtlichen Bedeutung bedeutet „Kascher“ legitim, angemessen, richtig und kann der Weg zu Shalom sein, was in seiner weniger populären Bedeutung auch Ganzheit und Vollständigkeit bedeutet. Vielleicht mehr als das, was wir zu uns nehmen, aber unser Handeln kann uns zu diesem Zustand der Zufriedenheit führen.

Die Shoah verursachte einen schweren Generationenriss. Sicherlich in Zahlen, sowohl absolut als auch relativ, aber es hat auch unseren Glauben erschüttert, was der Weg der Korrektheit zu diesem Shalom führt. Der Versuch, uns zu vernichten, hat uns getrennt, zerstreut und gewaltsam ausgedünnt – sie haben unsere Bücher verbrannt, unser Volk ermordet und uns entmenschlicht. An diesem Tag so grosser Trauer, an dem wir die Welt dazu bringen müssen, die Shoah nicht zu vergessen, bin ich erstaunt darüber, wie sehr uns der damalige grausame Mechanismus von einer jüdischen Existenz, einer jüdischen Denk- und Handlungsweise, einem jüdischen Verständnis der Welt, einem Umgang mit ihr und einer jüdischen Reaktion auf sie entfernt hat. 

Wir reduzieren oft das Jüdischsein auf Folklore und Anekdoten! Meine heutige Überlegung, insbesondere für uns Reformjuden, besteht darin, wie wir die Jüdischkeit im Denken, Handeln und in Beziehungen wiederherstellen können, ohne auf unser tägliches Leben zu verzichten. Oder besser gesagt: Wie wir unser Jüdischsein in unser tägliches Leben integrieren können! Vielleicht ist es an der Zeit, sich wieder der Herausforderung zu widmen, die die Reform im 18. Jahrhundert und ihre brillanten Rabbiner und Theoretiker in den letzten 250 Jahren so gut gemeistert haben.

Wäre es in der Diaspora gut, wieder zu einem kleinen Kreis zurückzukehren, das heisst, in der Nähe zu wohnen und unmittelbaren Zugang zu Synagogen und Studienräumen zu haben? Würde die Geografie allein das Problem lösen? Werden wir dann mit unserem Jüdischsein so im Reinen sein, dass wir es in unserem täglichen Leben erfahren wollen? Näherzukommen wäre vielleicht der beste Ausdruck des Opfers, des Korban, das uns einander näherbringt, uns einbindet und uns hingibt.

Ist es das, was wir an Israel lieben? Wo sich in die allgemeine Gesellschaft zu fügen nicht direkt den Zerfall unserer Identität bedeutet? Wäre eine Versöhnung mit dem jüdischen Alltagsleben der beste Weg, jene Generationen zu ehren, die aus unserer Mitte gerissen wurden?

Egal, wie viel sie uns zuschreiben oder wie wir uns selbst als Menschen der Geschichte, der Vergangenheit und der Traditionen betrachten, ich glaube nicht, dass wir das sind! Wir sind das Volk der Erinnerungskultur, das schon. Wir aufarbeiten die Vergangenheit, damit sie zum treuen Begleiter wird, mit dem wir Hand in Hand durch die Jahrhunderte reisen. Nicht weil es nicht altert, sondern weil wir nicht altern. Es gibt nichts Moderneres und Zeitgemässeres als einen Pessach-Seder in einem tropischen Land! Es gibt nichts Avantgardistischeres, als die Erschaffung der Welt zu feiern, wenn alle nur von Zerstörung reden.

Heute ist Jom HaSchoa vehaGevura. Shoa und Gevura. Am selben Tag: Holocaust und Heldentum, wir trauern und feiern, wir mahnen und wir sind stolz.

Und so ist es eben. So ist das Leben, und vor allem das jüdische Leben.

Ich lade alle ein, eine Kerze für jemanden anzuzünden, der im Holocaust sein Leben verloren hat. So können Sie das Andenken von Menschen ehren, die keinen lebenden Angehörigen mehr haben, der sich an sie erinnert. Erinnern Sie sich an Ihresgleichen und machen Sie ein Unbekanntes zu Ihremgleichen: https://www.illuminatethepast.org